Märzforderung 2024
Demokratie und Teilhabe vor Ort

von Volker Gallé (Kulturverein Alzey und Umgebung e.V.)
Vortrag vom 1. März 2024 in der Alzeyer Stadthalle (Kleiner Saal)

Die Geschichte der Demokratie ist die Geschichte der Teilhabe an politischer Gestaltung. Sie beginnt in über­schaubaren Gemeinschaften, ob in ländlichen oder städtischen Räumen und entwickelt sich in unterschiedlichen Formen. Auch in hierarchisch geordneten Gesellschaften ist sie nie ganz von den Menschen aufgegeben worden. In Dialogen und Konflikten wurde und wird die Teilhabe von immer mehr Menschen am Gemeinwesen durchgesetzt. So ist auch die in der europäischen Aufklärung beginnende Demokratisierungs­geschichte eine Geschichte von Schritten, Rück­schritten und Fortschritten. Sie begann in Männerbünden, die sich jenseits von Ständen und Konfessionen zusammen fanden. Frauen, Sklaven und Besitz­lose blieben lange von der Teilhabe ausgeschlossen. Der diesbezügliche Demokratisierungs­prozess ist, vor allem global betrachtet, nicht abgeschlossen. In den industrialisierten Staaten und Lebenswelten hat erst seit wenigen Jahrzehnten ein Denkprozess begonnen, der die gesamte als lebendig erfahrbare Erde mit einbezieht.

Die links­rheinische Entwicklung der Idee kommunaler Selbst­verwaltung seit der französischen Zeit um 1800 ist ein interessante Ausschnitt von dieser Entwicklung, an den man heute anknüpfen kann, wenn man Menschen für Demokratie als Gemein­wesenteilhabe begeistern und völkische Rückschritte in autoritäre Formen von Gewaltherrschaft verhindern will.

In der im Großherzogtum Hessen-Darmstadt am 8.7.1816 veröffentlichten Besitzergreifungsurkunde der später Rheinhessen genannten linksrheinischen Gebiete wird deren rechtlicher und politischer Bestand aus der französischen Zeit garantiert.

In der 1820 erlassenen hessischen Verfassung heißt es in Artikel 45: „Die Angelegenheiten der Gemeinden sollen durch Gesetz geordnet werden, welches als Grundlage die eigene, selbstständige Verwaltung des Vermögens durch von der Gemeinde Gewählte, unter der Oberaufsicht des Staats, aussprechen wird. Die Grundbestimmungen dieses Gesetzes werden einen Bestandtheil der Verfassung bilden.“ In der Gemeindeordnung von 1821 wurde die Verwaltungsstruktur der französischen Zeit für Rheinhessen bestätigt. Sie bestand aus einem Bürgermeister, einem oder mehreren Beigeordneten und dem Gemeinderat. Bürgermeister und Gemeinderat wurden gewählt, wenn auch unter eingeschränkten Wahlmöglichkeiten. Bereits 1818 wurde für Rheinhessen eine Provinzialregierung mit einem vom Großherzog ernannten Präsidenten und einem gewählten Provinzialrat eingesetzt.

Diese mit Blick auf das ganze Land fortschrittliche Teilhabestruktur wurde in den Folgejahren von der Regierung in Darmstadt immer wieder zurückgenommen mit dem Argument gleicher Rechtsverhältnis auf beiden Seiten des Rheins. Der wegen seiner Zuständigkeit für die Finanzen der Region unliebsame Bezirksrat wurde nach 1820 nicht mehr einberufen, die Provinzialregierung aufgelöst und 1835 in Rheinhessen durch vom Großherzog ernannte Kreisräte ersetzt. Dagegen regte sich Widerstand und der Abgeordnete Heinrich von Gagern aus Monsheim erklärte ein Jahr später im Landtag, Rheinhessen sie keine vom Großherzogtum eroberte Provinz, der man gegen ihren Willen rechtsrheinische Gesetze auferlegen könne. Kein Wunder, dass in der Märzrevolution von 1848 dann auch u.a. die Aufhebung des Instituts der Kreisräte gefordert und im Juli des Jahres unter der neuen liberalen Regierung auch umgesetzt. In Mainz wurde zudem gefordert eine freie Gemeindeverwaltung gefordert mit dem Zusatz „ohne die alles beengende Bevormundung durch Beamte.“ In Worms forderte man das Prinzip der Selbstverwaltung der Gemeinden. Und am Wendelsheimer Rathaus schlug man eine heute noch sichtbar Tafel an mit dem Satz „Sicherheit und Friede in der Gemeinde über allem.“ Es ging also um kommunale Selbstverwaltung als Basis demokratischer Teilhabe. Und so hieß es denn auch in der ein Jahr später für ganz Deutschland verabschiedeten Paulskirchenverfassung in Paragraph 184: Jede Gemeinde hat als Grundrechte ihrer Verfassung die Wahl ihrer Vorsteher und Vertreter, die selbstständige Verwaltung ihrer Gemeindeangelegenheiten mit Einschluß der Ortspolizei, unter gesetzlich geordneter Oberaufsicht des Staates, die Veröffentlichung ihres Gemeindehaushaltes und die Öffentlichkeit der Verhandlungen als Regel. In der rheinland-pfälzischen Verfassung von 1947 heißt es dazu den Gemeinden und Gemeindeverbänden gewährleistet. Die Aufsicht des Staates beschränkt sich darauf, dass ihre Verwaltung im Einklang mit den Gesetzen geführt wird.“ Was liegt also näher als Demokratie und Teilhabe für Gegenwart und Zukunft auf diesem Weg weiter zu entwickeln!

Mit Blick auf die aktuelle Lage der Kommunen und ihre Gestaltungsmöglichkeiten, muss festgestellt werden, dass dieser notwendige und sowohl grundsätzliche als auch grundrechtliche Handlungsspielraum stark eingeschränkt ist. Der wesentliche Grund dafür besteht in der Übertragung von durch Bund und Land gesetzlich beschlossenen Pflichtaufgaben, die auf Grund unzureichender Finanzausstattung durch die Auftraggeber in sehr vielen Kommunen zu einer Überschuldung geführt haben. Freiwillige Leistungen, die doch den Kern kommunaler Selbstverwaltung ausmachen, wurden und werden dadurch erheblich eingeschränkt. Die Aufsichts- und Dienstleistungs-Direktion ADD hat sich in dieser Situation zunehmend zu einer Aufsichts-Direktion entwickelt, die freiwillige Dienstleistung auf kommunaler Ebene immer weniger möglich macht. Mancher fühlt sich nicht von ungefähr an die großherzoglichen Kreisräte des Vormärz erinnert. Der zwar durch die Landesverfassung, aber nicht durch Ausführungsgesetze bestimmter Gestaltungsspielraum betrifft vor allem die Kultur, den Sport, die Wirtschaftsförderung, den Tourismus sowie Beratungsangebote im sozialen Miteinander. Durch diese Entwicklung ist aber nicht nur die kommunale Selbstverwaltung reduziert und damit eine schnelle und sachkundige Reaktion der Kommunalparlamente, die ihr Ohr nah an den Bürgerinnen und Bürgern haben, sondern auch die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger am Gemeinwesen. Bürokratische Projektprüfungsverfahren hemmen sowohl das Handeln der kommunalen Verwaltungen als auch die Handlungsimpulse der Zivilgesellschaft.

Aber das demokratische Gemeinwesen ist keine Serviceeinrichtung für Einzelpersonen und Interessengruppen, sondern ein Begegnungsraum der verschiedenen in einem Gemeinwesen lebenden Menschen mit dem Ziel, gemeinsam Lösungen für anstehende Fragen zu erarbeiten. Dafür braucht es Räume, nicht nur in den gewählten Parlamenten, sondern auch in der Gesellschaft. Das gilt um so mehr, als sich gegenwärtig traditionelle Hierarchien und Milieus auflösen und individualisieren, bzw. sich in immer mehr unterschiedliche Interessengruppen vervielfältigen. Kommunikation als Wesen der Demokratie muss zu aller erst vor Ort von den Kommunen mit den Akteuren der Zivilgesellschaft organisiert und koordiniert werden, und zwar in nachvollziehbaren und zielorientierten Teilhaberäumen, damit die Menschen zum demokratischen Handeln ermutigt werden.

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler meinte in seinem 2022 erschienenen Buch „Die Zukunft der Demokratie“, die Demokratie müsse als politische Ordnung so attraktiv sein, „dass eine Mehrheit der Bevölkerung den Willen hat, nicht nur qua Personaldokument, sondern im politikpartizipativen Sinn Bürgerin und Bürger zu sein. Die Demokratie der Zukunft ist auf das Vorhandensein möglichst vieler engagierter, sachlich kompetenter und urteilsfähiger Menschen angewiesen.“

Was finden wir vor? Da gibt es zum einen eine Servicementalität, die verlangt, der Staat müsse Wünsche erfüllen, als könne man begehrte Veränderungen in der Politik wie im Supermarkt kaufen. Wähler/innen verstehen sich an dieser Stelle als Konsumenten, als Käufer. Dass diese Einstellung das Gegenteil dessen ist, was von einem mündigen Bürger, einer mündigen Bürgerin in einer Demokratie erwartet wird, die auf Teilhabe aufbaut, hat bereits 1783 der Philosoph Immanuel Kant in seiner Schrift „Was ist Aufklärung?“ formuliert, wenn er sagt: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer teil der Menschen...zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“

Aber Demokratie ist nicht käuflich und wenn sie käuflich wird, ist es keine Demokratie mehr. Wenn man etwas politisch auf demokratische Weise verändern will, muss man sich sachkundig machen und sich mit Anderen für die Veränderung einsetzen, ob man sich und seine Ideen selbst zur Wahl stellt oder in Verbänden, Vereinen, Initiativen thematisch engagiert. Das ist eine anstrengende Aufgabe, die Jahre dauern oder aber auch in kurzer Zeit auf positive Resonanz stoßen kann. Das weiß man vorher nicht. Aber es braucht Impuls und Resonanz, selbst aktiv werden und Bündnispartner finden. Da sich traditionelle Milieus, die oft auch parteigebunden waren, auflösen und sich gleichzeitig immer neue, oft speziellere Milieus bilden, haben viele Bürger/innen Orientierungsprobleme und eine Scheu, auf staatliche Organe zuzugehen und zu erforschen, was schon möglich ist und was verändert werden müsste. Aber das Verharren in vorauseilender Verdrossenheit beeinträchtigt nicht nur das eigene Wohlbefinden, sondern macht verführbar für Hasskampagnen von Antidemokraten, die Paradiese versprechen, wenn man nur genügend Andersdenkende ausschließen, vertreiben oder sogar auslöschen würde.

Am Ende zahlen dann erfahrungsgemäß aber auch die die Zeche, die den Hassrednern und ihren Gewalttaten zuvor zugejubelt haben.

Aber das ist nur die eine, dunkle Seite der Gesellschaft. Und es ist nicht notwendig sie angstvoll anzustarren. Eine Notwende geht nur von der anderen, hellen Seite der Gesellschaft aus. Und es gibt nach wie vor viel mehr Menschen, die sich als mündige Menschen für eine Sache im Tu-Was-Modus engagieren. Und weil das mittlerweile nicht nur in bestehenden Parteien, Verbänden und Vereinen geschieht, sei es haupt- oder ehrenamtlich, sondern in neuen Formen der Zivilgesellschaft, wo oft Einzelpersonen oder kleine Gruppen sich für eine Sache begeistern und einfach mal anfangen zu handeln, wird diese helle Seite der Gesellschaft nicht als Ganzes sichtbar. Sie ist vielfältig, sachorientiert, handlungsstark, kreativ und von der Freude am Tun getragen. So funktionieren Initiativen, die Lebensmittel retten und neu verteilen, Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, die gemeinsam vor Ort naturnah Lebensmittel erzeugen, Hilfskonvois in Gebiete, die von Armut und Krieg bedroht sind, Senioren, die sich als Lesehelfer für Grundschulkinder einsetzen, Handwerker, die in ihren Gemeinden neue Treffpunkte schaffen, Führerscheininhaber, die ehrenamtlich Bürgerbusse fahren, Musiker, die zu Coronazeiten an frischer Luft in Wohngebieten konzertieren – diese Liste kann und muss fortgesetzt und nachhaltig auf lokalen und regionalen Plattformen kommuniziert werden, damit nicht nur von diesen Initiativen weiß und sich vielleicht anschließen oder eigene Initiativen ins Leben rufen kann, sondern um zu spüren, dass die Demokratie auf diese Art und Weise ständig neuen Schub erhält. Und dass man da mitmachen kann. Und diese Liste ist bunt, vielseitig und aufbauend und nicht eintönig, einseitig und abweisend. Zudem ist sie durch uns einzelne Menschen veränderbar. Dass es eine grundsätzliche Bereitschaft für Teilhabe gibt, hat zuletzt der „Rheinland-Pfalz-Monitor“ gezeigt, eine Studie der Universalität Trier im Auftrag des rheinland-pfälzischen Landtags. Dabei haben 79% der Befragten sich mehr Teilhabemöglichkeiten gewünscht. Dass gleichzeitig ein Drittel der Befragten trotz des in den Verfassungen verankerten Rechts auf Meinungsfreiheit Angst haben, ihre Meinung zu äußern, zeigt zum einen, dass sich teilweise ein Klima der Verneinung statt des Gesprächs breit macht und teilweise auch Mutlosigkeit. Dazu trägt, so die Studie, offenbar auch bei, dass viele Mensch sich überfordert fühlen, die komplexen Zusammenhänge politischer Entscheidungen zu verstehen. Es geht also um bürgernahe Kommunikation und niederschwellige Erprobungsräume von Teilhabe. Das soll an drei Beispielen verdeutlicht werden, die kommunale Selbstverwaltung und gemeinnütziges Engagement besser ermöglichen können, nämlich Bürgerbudgets, Lotsen für aktive Bürgerbeteiligung und eine Reform des Zuwendungsrechts für Projektförderung von Kommunen und gemeinnützigen Veranstaltern sowie der freien Szene.


Bürgerbudgets

Das Berlin Institut für Partizipation hat im Auftrag der Leipziger Akademie für lokale Demokratie e.v. und gefördert vom sächsischen Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt im Jahr 2020 eine Studie zu Bürgerbudgets erstellt. Vorgestellt und ausgewertet werden darin Modelle aus 32 Gemeinden in den Ländern Brandenburg, Berlin, NRW, Sachsen, Thüringen und Baden-Württemberg. Die Budgethöhe liegt zwischen 10.000 Euro bei kleinen Gemeinden und 220.000 bei Grosstädten wie Berlin, die maximale Projektförderung bei 16 bis 20% des Budgets. Die Förderentscheidung ist unterschiedlich geregelt und wird teils von Budgetbeiräten 8gewählt oder per Losentscheid), teils vom Gemeinderat/Stadtrat getroffen. Meist sind auch Jugendliche ab 16 Jahren in die Verfahren einbezogen. Empfohlen wird eine dauerhafte, meist jährliche Budgetierung sowie eine intensive Öffentlichkeitsarbeit zum jeweiligen Förderaufruf und dem Projektabschluss. “Bürgerbudgets vermitteln nicht nur Wissen über das Funktionieren von Demokratie, sondern auch die unmittelbare Erfahrung, was wiederum eine Voraussetzung für die Herausbildung von »Demokratiebewusstsein“ ist, so der Sozialwissenschaftler Carsten Herzberg (2019) laut der Studie. Erfahrungsgemäß erfolgte die Einreichung von Vorschlägen bei Bürgerbudgets in der Regel durch natürliche Personen (Einwohner/innen der jeweiligen Kommune). Empfänger/innen der Budgetmittel seien demgegenüber überwiegend Vereine und themenbezogene Initiativen.

In Zeiten überschuldeter Haushalte ist für die Umsetzung kommunaler Bürgerbudgets ein Landesgesetztbzw. eine Landesverordnung erforderlich. In Sachsen wird das umgesetzt, indem es zum Einen eine Förderrichtlinie „Bürgerbeteiligung“ zum Einsatz von Bürgerbugets beim Justiz- und Demokratieministerium gibt, zum anderen kommunale Satzungen wie in der Stadt Görlitz, die sich auf Paragraph 4 der sächsischen Gemeindeordnung berufen. Darin heißt es unter Absatz 1 „Die Gemeinden können die weisungsfreien Angelegenheiten durch Satzung regeln, soweit Gesetze oder Rechtsverordnungen keine Vorschriften enthalten. Weisungsaufgaben können durch Satzung geregelt werden, wenn ein Gesetz hierzu ermächtigt.“ In der rheinland-pfälzischen Gemeindeordnung heißt es vergleichbar unter Paragraph 24, Absatz 1: „Die Gemeinden können im Rahmen ihrer Aufgaben und der Gesetze Satzungen erlassen. Satzungen über Auftragsangelegenheiten bedürfen einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung.“ Meines Erachtens wäre das ein machbares Verfahren in Rheinland-Pfalz, das auf Landesebene mit einer Förderrichtlinie verbunden werden sollte, die in Form einer Landesverordnung den Rahmen für kommunale Bürgerbudgets bietet. Es ist sinnvoll, sowohl Kommunen und deren Ratsmitglieder sowie Landtagsabgeordnete auf diese Möglichkeit anzusprechen, die durch ihre konkrete und lokale sowie unbürokratische Teilhabemöglichkeit (Mustersatzungen aus anderen Bundesländern liegen vor und sind erprobt, auch für Quartiere) ein positives Demokratieverständnis und Demokratiegefühl ermöglicht. Weitere Anregungen findet man auch bei der „Stiftung Mitarbeit“, wo man auch einen Newsletter abonnieren kann.

Lotsen als Ansprechpartner für Bürgerbeteiligung

Um Bürgerbeteiligung in ihren unterschiedlichen Formen zu koordinieren – das reicht von gesetzlichen Verfahren über Bürgerversammlungen und Umfragen bis zu Bürgerbudgets und Bürgerberatung – ist es vor allem für neue Formen wie Bürgerbudgets notwendig eine Lotsenstelle in den Gemeindeverwaltungen zu haben, die Projektideen von Bürger/innen berät, indem sie die Ideen aufnimmt, innerhalb der Verwaltung Umsetzungs- und Fördermöglichkeiten inkl. notwendiger Genehmigungsverfahren abklärt, eine Beteiligungsvereinbarung abschließt und das Projekt in der Umsetzung begleitet. Die Stadt Leipzig hat eine Koordinierungsstelle „Leipzig weiter denken“ eingerichtet, die als „Anlaufstelle, Wissensträger und Lotse für die Themen Bürgerbeteiligung und bürgerschaftliches Engagement“ dienen soll. Der Schwerpunkt liegt hier im Bereich der Beratung des Ehrenamts. „Seit 2021 verfügt jeder Stadtbezirksbeirat in Leipzig über ein eigenes Budget in Höhe von 50.000 Euro pro Jahr. Damit können Ideen und Vorhaben vor Ort direkt unterstützt werden. Alle Leipzigerinnen und Leipziger sind eingeladen, sich einzubringen: mit Vorschlägen für Maßnahmen im Stadtviertel, die von der Stadt umgesetzt werden sollen, oder mit eigenen Projekten, die finanziell gefördert werden können.“

In Hessen wurde 2004 ein Programm zur Ausbildung ehrenamtlicher Lotsen gestartet. Sie sollen ehrenamtliche Aktivitäten in ihren Kommunen koordinieren, Projekte umsetzen und Bürger/innen für ein Ehrenamtsengagement gewinnen. Die Ausbildung dauert sechs Monate. Bis 2023 wurden 800 Lotsinnen und Lotsen in Gemeinden aller Größenordnungen ausgebildet. Im Rahmen des rheinland-pfälzischen Modellvorhabens „Innenstadt-Impulse“ wurde n seitens des Innenministeriums u.a. Projekte zum Austausch von Politik und Bevölkerung gefördert wie der „Lautrer Demokratieladen“ (Dauer zwei Wochen) und die „Alzeyer Bürgerwoche“ (Dauer eine Woche). Seit 2011 gibt es einen dauerhaften Demokratieladen in Anklam (Mecklenburg-Vorpommern) und seit 2021 einen in Kahla (Thüringen). Das Projekt in Anklam wird von der dortigen Landeszentrale für politische Bildung betrieben: „Hier finden Vorträge, Ausstellungen, Lesungen und Diskussionen zu aktuellen politischen Fragen und Themen statt. Interessierte Bürgerinnen und Bürger, Vereine und andere Institutionen finden im Demokratieladen Unterstützung und Rat bei der Umsetzung eigener Ideen zur Entwicklung einer demokratischen Kultur in Vorpommern.“. Eine solche Einrichtung wäre auch in Rheinland-Pfalz möglich, räumlich z.B. zunächst im Pop-up-Bereich der Innenstadtförderung als Modell, aber von Anfang gleichzeitig als Sitz eines/einer hauptamtlichen Mitarbeiters/Mitarbeiterin von Stadt-, Verbandsgemeinde- oder Kreisverwaltungen in Lotsenfunktion. Und hier könnte auch mehr Wissen über Demokratie vermittelt werden, wie es 60% der Befragten in der Studie „Rheinland-Pfalz-Monitor“ geäußert haben.

Reform des Zuwendungsrechts

Projekte im Bereich freiwilliger Leistungen der Kommunen sind ebenso wie Projekte des gemeinnützigen Sektors und der freien Szene meist nur noch im Rahmen von Landes-, Bundes- oder EU-Förderprogrammen möglich. Hier gilt es allerdings auf Seiten der Kommunen Probleme bei der Kofinanzierung wegen einer finanziellen Überforderung bei übertragenen Pflichtaufgaben und Haushaltsauflagen der Aufsichtsbehörden im in Rheinland-Pfalz besonders häufigen Fall von Überschuldung, so dass in erster Linie im Bereich freiwilliger Leistungen gekürzt wird. Dazu kommt, dass die Zuwendungsverfahren sowohl gemeinnützige und freie Szene als auch Kommunen zunehmend wegen ihrer bürokratischen Hürden abschrecken, was u.a. dazu führt, dass vorhandene Programme gar nicht ausgeschöpft werden. Aber es sind mehr und nicht weniger freiwillige Leistungen vor Ort notwendig, nicht nur um Teilhabementalität gegenüber Versorgungsmentalität mehr Gewicht geben zu können, sondern auch weil lokal die Kenntnis von notwendigen Problemlösungen konkreter ist und flexibler und zeitnaher gestaltet werden kann als auf Landes-, Bundes- oder EU-Ebene.

Im Juni 2024 hat die „Kommunale Gemeinschaftsstell für Verwaltungsmanagement“ in Köln eine Studie unter dem Titel „Deutliche Modernisierung im staatlichen Fördersystem aufBundes- und Länderebene erforderlich. Kommunale Vorschläge zur Entbürokratisierung“ vorgelegt. Zur Modernisierung des Zuwendungsrechts wird vorgeschlagen, Programmstrukturen und Förderprozess zu standardisieren, den vorzeitigen Maßnahmebeginn bei Projektförderungen zuzulassen, das Jährlichkeitsprinzip im Haushaltsrecht für Förderprogramme aufzuheben sowie Antrags- sowie Programmlaufzeiten den Herausforderungen anzupassen.

Was den vorzeitigen Maßnahmenbeginn angeht, ist in Rheinland-Pfalz die Regelung in Nr. 3.5. der „Allgemeinen Kulturförderrichtlinie“ in dieser Hinsicht beispielgebend, weil hier der vorzeitige Maßrahmenbeginn zugelassen wird, wenn die Zuwendungshöhe von 50.000 Euro nicht überschritten wird. In Sachsen gibt es dazu eine noch weitergehend Regelung bei Ausgaben von weniger als 100.000 Euro.

Eine Zulassung sollte am besten mit Antragstellung erfolgen, auch wenn der Antragsteller das dann auf eigenes Risiko eingeht. Notwendig ist das vor allem für alle Formen von notwendigen Vorplanungen. Auch wenn dies ermöglicht wird, sollten dennoch die Zuwendungsbescheide früher erteilt werden, am besten bis Dezember des Vorjahres oder bis Januar des Förderjahres. Dazu bedarf es einer Aufstockung von Personalkapazitäten bei den Bewilligungsstellen, seien sie auf Ebene von Landesministerien oder auf der Ebene der Mittelbehörden wie ADD angesiedelt. Mit Blick auf die Haushaltsgenehmigung von Kommunen sollte es im Benehmen mit dem Land üblich sein, bereits Anfang des Jahres einen prozentualen Anteil des Haushalt s. Incl. Der freiwilligen Leistungen zur Bewirtschaftung freizugeben. In Rheinland-Pfalz wurde das bisher in einzelnen Kommunen in Größenordnungen zwischen 20% und 80% gehandhabt.

Mehrjährigkeit von Förderprojekten kann durch Verpflichtungsermächtigungen in den Haushalten erreicht werden. Hilfreich wäre auch ein Belassen von Restmitteln und deren Übertragung auf das folgende Haushaltsjahr, auf Landes- wie auf Gemeindeebene. Um das auch seitens der Parlamente zu verankern, könnten z.b. zwischen Land und Kommunen oder gemeinnützigen Förderpartnern mehrjährige Verträge geschlossen werden. Das wäre auch für Budgets in Fachbereichen wie Kultur oder Soziales denkbar. Eine gesetzliche Grundlage für eine Haushaltsgenehmigung durch die Aufsichtsbehörde wäre auch eine Landesverordnung, die ab einer Landes-, Bundes- oder EU-Förderung von 50% eine Kofinanzierung erlaubt.

Wege zur Umsetzung

Dass die Kommunen in der Region zu solchen Öffnungen in Richtung Teilhabe bereit sind, zeigen die seit 2023 betriebene Ehrenamtsseite des Landkreises, die zu einer zivilgesellschaftlichen Kommunikationsplattform erweitert werden könnte, das vom Land geförderte Innenstadtprojekt der Stadt Alzey und die Ehrenamtsförderung der LAG Rheinhessen (LEADER). In der LEADER-Förderperiode 2014-22 gab es 140 Ehrenamtsprojekte, für die 194.000 Euro (davon 158.000 Euro Landesmittel, 35.000 kommunale Mittel und 1.000 Euro Spenden) zur Verfügung standen. Davon wurden 181.464 Euro abgerufen, Restmittel entstanden wegen niedrigerer Kosten oder nicht zustande gekommenen Projekten. Auch hier wäre die Genehmigung eines vorzeitigen Maßrahmenbeginn bei Antragstellung sinnvoll. Auch für die neue Förderperiode von 2024-29 sind jährliche Mittel von 30.000 Euro für Ehrenamtsprojekte geplant. Die Höchstfördersumme beträgt hier jeweils 2.000 Euro.

All diese Veränderungen erfordern bürgerschaftliches Engagement. Und sie gehen oft weit über das hinaus, was Bürger/innen über Verwaltungsabläufe wissen. Es scheint mir dennoch wichtig und sinnvoll, dazu aufzufordern, sich dieses Wissens anzueignen und gegenüber der Politik auf allen Ebenen ins Gespräch zu bringen, insbesondere vor der anstehenden Kommunal- und Europawahl vom 9. Juni 2024. Das ist ein positiver Weg, für Demokratie zu begeistern und dabei nicht nur die bereits tätige Zivilgesellschaft zu stärken und medial in den Vordergrund zu rücken, sondern auch sich ohnmächtig fühlende Menschen zum aktiven Handeln zu bewegen und damit zur Nutzung der ihnen per Verfassung zustehenden Menschen-, Grund- und Bürgerrechte. Am effektivsten wären solche Impulse, wenn man nicht nur über das Thema reden, sondern sich auch ein für die jeweils einzelnen Personen und Gruppen geeignetes lokales Projekt aussuchen und im Austausch mit den Kommunen seine Erprobung vor Ort angehen würde.